Portrait Foto von Prof. Dr. Tim Bindel Prof. Dr. Tim Bindel hat für das Programm „Bundesliga bewegt" eine Prozessevaluation durchgeführt. ©Anna Siggelkow

23.11.2022

Nachgefragt: Tim Bindel, wie wirken wir dem Bewegungsmangel von Kindern entgegen?

Prof Dr. Tim Bindel von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat für das Programm „Bundesliga bewegt“ eine Prozessevaluation durchgeführt. Das Programm ist im Februar 2022 mit dem Ziel gestartet, Bewegungsangebote noch besser zu verzahnen und Kindern Zugang zu Bewegung zu ermöglichen. 25 Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga haben an der Pilotphase teilgenommen. Mit Tim Bindel haben wir über die zentralen Erkenntnisse und Potenziale von „Bundesliga bewegt“, über Gründe für Bewegungsmangel bei Kindern und über Ansätze, diesem entgegenzuwirken, gesprochen.

„Setzen, vier minus!“ So lautet die ernüchternde Benotung für Deutschland im Bereich „Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen“ im aktuellen Bewegungszeugnis der „Active Healthy Kids Global Alliance“.*  Auch die Ergebnisse eines aktuellen WHO-Berichts sind kein Grund zur Freude: 88 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen in Deutschland bewegen sich zu wenig.**

Tim Bindel

Prof. Dr. Tim Bindel ist geschäftsführender Leiter des Instituts für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Abteilung Sportpädagogik/Sportdidaktik. Seine Interessenschwerpunkte liegen in sportpädagogischer Jugendforschung und im Feld des Sports in sozialer Verantwortung. Er ist Sprecher der Kommission Sport und Raum der Deutschen Vereinigung der Sportwissenschaft und dort Experte für eine bewegte und sportbezogene Stadtraumgestaltung.

Herr Bindel, wie bewerten Sie diese Zahlen? Warum bewegen sich junge Menschen in Deutschland zu wenig?

Ja, das ist alarmierend. Mich ärgert es aber immer, wenn das so daherkommt, als seien die Kinder und Jugendlichen das Problem. Bewegungsarmes Verhalten ist eine Zivilisationssymptomatik, die uns bei den jungen Menschen am meisten auffällt. Aber in einer digitalen On-demand-Kultur, in der Bedürfnisse schnell und oft innerhalb der eigenen vier Wände befriedigt werden können (zum Beispiel Konsum und Unterhaltung), werden reizfreie Zeiten und weniger attraktive Betätigungen immer seltener. Das betrifft auch die Mobilität und den traditionellen Sport. Und das betrifft natürlich nicht nur junge Menschen in Deutschland, sondern alle Kulturen, die wohlhabend sind und einen Anstieg der Verstädterung aufweisen. Man muss sich nicht zwangsläufig bewegen, um etwas Tolles zu erleben – das ist eine Folge der zunehmenden Digitalisierung, die ja für junge Menschen auch extrem positive Aspekte aufweist. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Hinwendung zu einer medialen Freizeitgestaltung gerade bei Jugendlichen etabliert.

Wo würden Sie aus sportpädagogischer Sicht zuerst ansetzen, um dem Bewegungsmangel entgegenzuwirken und Kinder nachhaltig in Bewegung zu bringen?

Zunächst einmal würde ich dort ansetzen, wo auch das Problem besteht – bei der Bewegung. Da kommt nach meinem Dafürhalten der Sport nur indirekt ins Gespräch. Nach allem, was wir zum Thema Gesundheit und Bewegung wissen, ist es die aktive Mobilität, die wir in den Städten fördern müssen. Das betrifft die Wege zu Kitas und Grundschulen, die Gestaltung des städtischen Wohnens und die Verbesserung der Infrastruktur für das Gehen und Radfahren. Eltern müssen mit ihren Kindern Lust am bewegten Wohnen haben, Kinder müssen sicher zur Schule radeln können, Bewegung muss in ihrer Natürlichkeit ermöglicht werden. In dem sportpädagogischen Cocktail, den wir hier servieren müssen, ist das der Hauptanteil. Jetzt kommen Schule und Sportverein dazu, die das Angebot rund machen. Ohne die schmeckt’s nicht.

Wir benötigen hier ein Angebot, das einen frühen und einfachen Zugang zum Sport ermöglicht – am besten in vernetzten Bündnissen.

Dabei dominiert die Freude am Sport, am zweckfreien Tun, am Spielen, am Zusammensein. Hier geht es nicht um Gesundheit, sondern um einen Lebenssinn. Das kann im Aufwachsen des Menschen eine wichtige Ressource werden. Natürlich sind Sport und Gesundheit essenziell, aber ich würde beides unter 40 noch nicht konzeptionell zusammenbringen.

Die Kinder des Spielraums vom SV Werder Bremen haben viel Spaß an der Bewegung.
Im SPIELRAUM des SV Werder Bremen haben die Kinder viel Spaß an den Bewegungsangeboten. © SV Werder Bremen

Auf Initiative der DFL Stiftung, des SC Freiburg und des SV Werder Bremen wurde im Februar 2022 das Programm „Bundesliga bewegt“ gestartet, 23 weitere Proficlubs haben sich angeschlossen. Sie haben für das Programm eine Prozessevaluation durchgeführt. Welche waren die wichtigsten drei Erkenntnisse und wo sehen Sie die größten Potenziale?

  • Erstens: In Deutschland gibt es eine Bewegung, in der junge Menschen aktiv sind, die Sport neu denken möchten. Sie wollen Kindern damit helfen und haben Lust darauf, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Das Projekt hat diese Menschen vereint. So etwas gab es in der Form meines Wissens lange nicht mehr. Das fand ich sehr beeindruckend und davon verspreche ich mir sehr viel.
  • Zweitens: Über die Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga besteht eine sehr große Reichweite. Da können sich 36 Arme für Kinder öffnen und der Kopf ist die Steuerungsgruppe bestehend aus DFL Stiftung, SC Freiburg und SV Werder Bremen. Das finde ich wahnsinnig effektiv. In meiner Forschung habe ich das mit einem Franchise verglichen. Das heißt, wir sehen hier ein überregionales Produkt, das dezentral an unterschiedlichen Standorten angenommen und individualisiert eingesetzt werden kann.
  • Drittens: Zugang für alle zu schaffen, ist ein wahnsinnig hoher Anspruch. Alle würden das Ziel zwar so unterschreiben. In der Wirklichkeitsbetrachtung fällt jedoch auf, dass die Ziele und Angebote der Vereine auch für Exklusivität sorgen. Das liegt allein schon an der Dominanz des Ballsports und an der mehr oder weniger sichtbaren starken Rolle der Verbesserungslogik. Man muss sich klar werden, ob man wirklich allen Kindern ein Zuhause geben möchte, oder vorzugsweise denen, die sich für Bälle und Verbesserungen interessieren können. Wenn man sich auf das zuletzt genannte konzentriert, spricht man zum Beispiel sehr viele weibliche Bewegungsfans mit seinem Angebot nicht an.

Die größten Potenziale sehe ich in der Vernetzung, verbunden mit der Qualifizierungsbereitschaft der Proficlubs.

Man kann aus der Steuerungsgruppe heraus sehr gut in die Zusammenarbeit mit den Vereinen gehen, Bildungsangebote machen und die Erfolge bundesweit steuern. Die DFL Stiftung ist schlau genug, die Unterschiede der Vereine zu berücksichtigen und vor allem, deren Expertise mit in die Entwicklung zu nehmen.

Stichwort Potenziale: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit die Potenziale von „Bundesliga bewegt“ genutzt werden können?   

Die beteiligten Clubs müssen für sich klar entscheiden, was sie mit den jungen Menschen vorhaben, die an ihren Angeboten teilnehmen. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ich eine starke Priorität im Nachwuchsleistungssport sehe oder ob ich mich als Sozialakteur in der Stadt verstehe. Letzteres ist für „Bundesliga bewegt“ eine riesige Chance, denn hier kann ich von der Kindheit bis in die Drop-out-gefährdete Jugend vernetzte Angebote aufbauen, die den Zugang und Verbleib sichern – was auch den zentralen Zielen der DFL Stiftung entspricht.

Dazu muss man wissen, dass man Angebote kreieren und betreuen muss, bei denen Kinder und Jugendliche den Sport unter Umständen zwar schlecht, aber mit Spaß ausüben. Ich bin aber der Meinung, dass Spitzensport nur eine Chance hat, wenn die Breite stimmt und nicht der Logik gehorchen muss, dass die Breite in die Spitze führt, sondern breit bleiben darf. Wer sich auf diesen Weg macht, benötigt nun Qualifizierungen in den Metathemen des Sports – Reflexion mit Kindern, Einbindung von Eltern, Partizipation etc. Ich halte das für extrem spannend und sinnvoll. Damit das geleistet werden kann, braucht es vor allem auch eine langfristige Finanzierungsperspektive, gerade für das Personal.

Bewegungskoordinator*innen lernen bei einer Qualifizierungsveranstaltung neue Spielformen kennen.

Ein Blick in die Zukunft: Wie sollte in Deutschland die Lebenswelt für Kinder und Jugendliche in Bezug auf Bewegung gestaltet werden, damit Sie die Schulnote 1 vergeben würden? 

Wesentlich ist als erstes die Haltung, die wir jungen Menschen gegenüber einnehmen sollten. Sie lautet: „Die Kinder und Jugendlichen haben recht!“

Sie haben recht, wenn sie sich nicht gerne im Nahraum der Stadt bewegen und sie haben recht, wenn sie nicht in den Sportverein gehen. Warum sollten sie es tun, wenn die digitalen Unterhaltungsmedien so gut sind und sich zugleich das analoge Angebot nicht den Ansprüchen einer Kindheit und Jugend anzupassen vermag, die mehr erwartet als in den 1990ern. Es gibt einen wachsenden Anspruch an Individualität und Diversität.

Wir brauchen neben traditionellen Angeboten moderne Angebote für eine Generation, die beispielsweise via Netflix erfährt, dass die Welt bunt und divers ist. Wir brauchen Städte, die die aktive Mobilität unterstützen, Räume für Jugendliche ohne definierte Ausübungsformen. Wir brauchen Spielorte. Wir brauchen mehr Vereinsangebote für lustvolles Sporttreiben, Sporttreiben ohne Verbesserungslogik, das muss organisiert und betreut sein. Dafür brauchen wir Ressourcen; also wahrscheinlich Umverteilungen. Ich kann aber mit Sicherheit behaupten, dass schlussendlich auch die Spitze profitiert, wenn wir in Deutschland die Lust am Bewegen und Sporttreiben dadurch fördern, dass wir den Menschen attraktive und vielfältige Angebote gestalten, statt mit verschränkten Armen die Eingänge zum traditionellen Sport zu bewachen und kopfschüttelnd auf die faule Jugend schauen.

Vielen Dank!

* Das Bewegungs-Zeugnis wurde 2022 nach 2018 zum zweiten Mal ausgestellt. Die Ergebnisse basieren auf einer weltweiten Untersuchung der „Active Healthy Kids Global Alliance“, die in 57 Ländern die körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen analysiert hat.

** Quelle WHO-Bericht

Die Kernergebnisse der Evaluation der Pilotphase von „Bundesliga bewegt“ haben wir in dieser Broschüre zusammengefasst. Für den ausführlichen Evaluationsbericht komme gerne auf uns zu.

Ansprechperson:
Franziska Silbermann
Leiterin Programme und Fördermanagement
franziska.silbermann@dfl-stiftung.de

Bundesliga bewegt

Das bundesweite Programm wurde im Februar 2022 von der DFL Stiftung, dem SC Freiburg und dem SV Werder Bremen ins Leben gerufen und wurde von insgesamt 25 Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga durchgeführt. Um Kindern niedrigschwellig Zugang zu Bewegungsangeboten zu ermöglichen, haben sich die Proficlubs mit Kitas, Schulen, Sportvereinen und weiteren Institutionen aus Sozialräumen, zum Beispiel sozial benachteiligten Stadtteilen in der Region, zusammengetan. Ziel ist es, aus dem Profifußball heraus Impulse zu setzen, Austausch zu ermöglichen und langfristig die Vernetzung im Sozialraum zu stärken. Die Pilotphase wurde aus Mitteln des von der Bundesregierung finanzierten Programms „Auf!leben – Zukunft ist jetzt.“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung unterstützt. Für übergeordnete Maßnahmen (Qualifizierung, Vernetzung, Koordinierung) besteht seit Oktober 2022 eine Anschlussförderung durch die Deutsche Postcode Lotterie. Ziel ist es, „Bundesliga bewegt“ mit vielen Proficlubs zu verstetigen und den Wissenstransfer mit weiteren Partnern wie ALBA Berlin mit der bundesweiten Initiative SPORT VERNETZT zu verstärken.