02.07.2025
02.07.2025
Das erste Tor schießt Lara* um kurz nach halb zwölf. Kurze Drehung um Aylin, dann vorbei an Maya, bis sie nur noch Swetlana vor sich hat, aber auch sie ist kein Hindernis. Was folgt, ist ein eleganter Schuss ins rechte Eck – natürlich mit dem linken Fuß, wie sich das gehört für ein Mädchen im himmelblau-weiß gestreiften Leibchen der argentinischen Fußball-Nationalmannschaft. Am Spielfeldrand notiert der Reporter: Diego Maradona und Lionel Messi hätten das auch nicht besser hinbekommen.
Lara ist acht Jahre jung und geschätzt einen Meter groß.
Es ist der dritte und vorletzte Tag im Ostercamp an der Ruheplatzstraße im Berliner Stadtteil Wedding. Einen spannenden Vormittag lang haben Lara, Aylin, Maya, Swetlana und acht weitere Mädchen geschrieben und gemalt und diskutiert. Alle sind sie zwischen acht und zwölf Jahre alt und werden nicht ausschließlich auf der Sonnenseite des Lebens groß. Der alte Arbeiterbezirk Wedding zählt zu den Gegenden, in denen Soziologen verstärkt „strukturell benachteiligte Verhältnisse“ verorten. Am vorletzten Tag des Ostercamps geht es um Partizipation. „Komisches Wort“, sagt Julia Knopf und holt ein bisschen aus: „Es geht darum, dass ihr bestimmt, worum es geht. Was würdet ihr zum Beispiel machen, wenn ihr hier die Chefin wärt und das Feriencamp organisieren würdet?“ Schon gehen die Arme hoch, es herrscht allgemeine Begeisterung und die Ideen sprudeln nur so hervor, aber dazu später mehr.
Julia Knopf leitet das Ostercamp und legt doch Wert darauf, dass sie eigentlich gar nichts leitet. Vielmehr moderiert sie: die Wünsche, Sehnsüchte und Interessen der Mädchen. Julia Knopf arbeitet als Projektkoordinatorin für den Safe-Hub Berlin, ein innovatives Bildungs- und Sportzentrum der gemeinnützigen Organisation AMANDLA, das seit 2015 von der DFL Stiftung gefördert wird. Der Safe-Hub ist ein sozialer Bildungs- und Sportcampus, der Kindern und Jugendlichen durch Fußball, Workshops und Mentoring einen sicheren Raum für persönliche Entwicklung, Chancengleichheit und Teilhabe bietet. „Wir haben nicht den Anspruch, Profispielerinnen heranzuziehen“, sagt Julia Knopf. „Aber der Fußball ist ein großartiges Vehikel, um den Mädchen zu zeigen, wie sie für ihren Platz in der Gesellschaft eintreten können. Wir wollen die Stimmen der Mädchen stärken und ihre Teilhabe, Gleichstellung sowie ihr demokratisches Verständnis nachhaltig fördern.“
Das Ostercamp ist Teil des Programms Girls Hub und richtet sich gezielt an Mädchen, um deren Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu stärken. Da ist zum Beispiel Viktorija, sie ist elf Jahre alt und hat in Berlin Schutz vor den russischen Bomben gefunden, die seit Jahren die Ukraine verwüsten. Viktorija lebt mit ihrer Familie in einer Unterkunft für Geflüchtete. Sie lernt erst seit ein paar Wochen Deutsch und hat sich in den ersten Tagen des Camps ein bisschen schwer damit getan, Anschluss an die Gruppe zu finden. Julia Knopf hat ihr vorgeschlagen: „Bring doch ein paar Leute aus deiner Unterkunft mit!“ Also steht Viktorija schon eine halbe Stunde vor allen anderen am Eingangstor des Safe-Hub und stürmt mit drei Freundinnen auf den Platz, sobald Julia Knopf die Tür aufgeschlossen hat. Fragend und herausfordernd zugleich ruft sie: „Wo ist der Ball?“, und schon geht es los.
Die Sprache des Fußballs ist universell, und sie hat sich auf diesem kleinen Fleckchen Wedding noch nie um politische Grenzen geschert. Sprachfetzen aus dem Arabischen, Türkischen und vom Balkan mischten sich schon auf dem alten Bolzplatz an der Ruheplatzstraße, der zum Glück noch nie ein ruhiger Platz war. Im November 2023 haben die guten Geister vom Safe-Hub einen Kunstrasen über den alten Sandplatz gerollt und drei Container neben dem Zaun am Eingang aufgestellt. Und es wird weiter mit viel Liebe und Engagement in die Zukunft investiert. Als Nächstes ist ein festes Gebäude geplant, das den Kindern und der gesamten Nachbarschaft als Zentrum für Gemeinschaft, Teilhabe und Zusammenhalt zur Verfügung steht. Für jede und jeden ist etwas dabei, von nach Altersgruppen getrennten Trainingseinheiten über offene Spiel- und Lernangebote bis hin zu speziellen Angeboten wie dem Ostercamp. Die Zeit in den Ferien nutzen die Macherinnen vom Safe-Hub, um noch mehr Einsicht in den Lebensalltag und die Bedürfnisse der Mädchen zu bekommen. Und wenn einmal kein eigenes Programm läuft, steht der Platz Schulen, Kitas oder privaten Gruppen offen, gemeinnützigen Einrichtungen sogar zum Nulltarif.
Nachdem Viktorija und ihre Freundinnen sich ein bisschen ausgetobt haben, bittet Julia Knopf die versammelte Mädchenschar in den größten der drei Container. An den Wänden kleben allerlei Plakate mit klar formulierten Botschaften: „Vielfalt“, „Solidarität“ oder „Gerechtigkeit“. Oder: „Female Empowerment“ und „You can, Girl!“ Die Mädchen platzieren sich um drei Tische herum. Buntstifte und Zeichenpapier machen die Runde. Julia Knopf flitzt zwischen den Tischen umher, tatkräftig unterstützt von den Trainerinnen Nour und Alena. Die Mädchen malen den Safe-Hub in ihrer ganz persönlichen Idealwelt. Viktorija entwirft eine Skaterbahn und Lara eine Bühne, auf der sie später tanzen und singen will. „Können wir nicht ein bisschen Musik anstellen?“ Na klar, kein Problem, und schon groovt es aus der großen Box in der Mitte des Containers. Die Gestaltung des Safe-Hub nach eigenen Vorstellungen ist ein klassisches partizipatives Instrument und ermöglicht den Mädchen, kreativ und ohne sprachliche Barrieren Wünsche zu äußern und Visionen zu entwickeln.
Nach der künstlerischen Phase beginnt auch schon die Diskussion. Wie würdet ihr das große Sommerfest vom Safe-Hub organisieren, wenn ihr hier das Sagen hättet? Maya regt ein großes Mädchenfußballturnier an, Swetlana plädiert für Boxen und Yoga, Aylin will die Familien aller Mädchen zu Popcorn einladen, oder zu anderen Snacks. Und Zuckerwatte! Und die Musik aus der großen Box darf natürlich auch nicht fehlen. Julia Knopf notiert alle Wünsche und verspricht, sie der Geschäftsführerin des Safe-Hub vorzulegen: „Das sind tolle Vorschläge! Ihr könnt euch sicher sein, dass wir uns darum kümmern!“ Es geht nicht nur um Konsultation, sondern um ganz konkrete Mitbestimmung. Die Mädchen sollen nicht nur das Gefühl haben, dass sie mitbestimmen. Sie sollen tatsächlich Entscheidungen treffen. „Die Diskussion zur Planung des Sommerfests ist mehr als ein netter Programmpunkt“, sagt Julia Knopf. „Die Wünsche der Mädchen sind Ausgangspunkte für unsere interne Planung.“
Dann ist es auch schon halb zwölf und die Zeit reif für den Fußball. Alena und Nour organisieren ein paar Übungen, natürlich haben die Mädchen ein Mitspracherecht, aber vorher hat die kleine Lara noch etwas zu erledigen. Kurze Drehung um Aylin, dann vorbei an Maya, Schuss mit links und Jubel. Klasse-Tor, sagt der Reporter und will wissen, für wen denn die Nummer 10 auf dem himmelblau-weißen Trikot steht: „Wer ist denn nun dein Lieblingsspieler – Maradona oder Messi?“ Blöde Frage, Lara verdreht die Augen, natürlich Cristiano Ronaldo! Aber für solche albernen Diskussionen hat sie jetzt keine Zeit, denn jetzt muss erst einmal ihr Tor gefeiert werden. Ein Tor, das sinnbildlich für all das steht, was den Girls Hub ermöglicht: Selbstvertrauen, Teilhabe und Sichtbarkeit. Die Mädchen erleben sich hier nicht als Teilnehmerinnen eines Programms. Sie gestalten aktiv mit und sollen genau dieses Gefühl mitnehmen. Nach draußen, in die Welt jenseits des Bolzplatzes.
* Alle Mädchennamen geändert
Autor: Sven Goldmann
Fotos: DFL Stiftung/ Witters
Das von der AMANDLA gGmbH organisierte Projekt SAFE-HUB bietet vielfältige und innovative Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Berlin. Sport- und Bewegungsangebote werden genutzt, um junge Menschen in verschiedenen Lebensbereichen individuell zu fördern. Die Vermittlung demokratischer Werte ist dabei ein elementarer Bestandteil.
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